Basiswissen für User Testings
Gemäss ISO 9241 gilt die tatsächliche Usability (Benutzbarkeit) eines Produktes, als ein Teilbereich der gesamten User Experience (Nutzererlebnis). Das bedeutet, die reine Benutzbarkeit eines Produktes kann unabhängig des ganzheitlichen Nutzererlebnisses betrachtet werden. Auf der anderen Seite spielt jedoch die Benutzbarkeit eines Produktes eine starke Rolle für das gesamte Nutzererlebnis. Warum ist das für das Testing wichtig? Nun. Würdest Du einen Formel 1 Rennwagen im Stadtverkehr testen wollen? Fangen wir von aussen an.
Eine Frage des Kontextes
Ein Produkt hat immer einen Kontext. Dieser besteht nicht nur aus der physischen Umgebung, sondern auch aus den zur Verfügung stehenden Ressourcen und was vom Benutzer erwartet werden kann. Diesen Kontext sollte man zuvor durch andere Methoden wie Interviews, Befragungen und Kontextanalysen erarbeiten und definieren. Mehr zur Kontextanalyse in einem späteren Artikel. Für den Moment reicht es uns zu wissen, dass man sich darüber im Klaren sein muss, in welchem Kontext die zu testende Lösung benutzt werden soll. Wird das Produkt von Fachpersonen verwendet? Gibt es zeitliche Limitationen? Gibt es Ausseneinflüsse, welche mit der Nutzung interferieren können? Die Wichtigkeit diesen Kontext in das Testing zu integrieren oder bewusst wegzulassen, hängt davon ab, was man testet und wie. Hierbei gilt es hervorzuheben, dass den Kontext zu kennen und bewusst auszuschliessen, nicht das Gleiche ist, wie ihn schlichtweg zu ignorieren.
Messen und Analysieren
Usability ist eine Frage des Empfindens. Dabei zählt nicht, was der Entwickler, Designer oder Product Owner empfindet, sondern was der eigentliche Benutzer empfindet. Das ist keine exakte Wissenschaft, aber dennoch eine Wissenschaft und daher messbar und an bestimmte generell gültige Werte und Prinzipien aus der angewandten Psychologie gebunden. Diese Werte sind sogenannte Heuristiken. Einfach ausgedrückt sind Heuristiken allgemein anerkannte Daumenregeln für eine benutzerfreundliche Gestaltung, unabhängig vom eigentlichen System. Diese Heuristiken berücksichtigen beispielsweise: Übereinstimmung von System und Wirklichkeit, Nutzerkontrolle und Freiheit, Beständigkeit und Standards, Flexibilität und Effizienz, um ein paar zu nennen.
Diese Heuristiken müssen nicht dogmatisch eingehalten werden, sollte die Natur eines Systems nicht unbedingt mit einer Heuristik vereinbar sein. Jedes Testing sollte sich jedoch in seinen Aufgaben und im Testaufbau an solchen passenden Punkten orientieren, da sie grundlegende Anforderungen von Menschen definieren, unabhängig von System oder Fähigkeiten der Benutzer.
Usability Test
Der typische Usability-Test ist, was die meisten unter Testing verstehen. Dabei wird jedoch selten das ganze Produkt getestet. Vor dem Testen werden potenzielle Probleme und bestimmte Fragen zum Produkt definiert. Einem Probanden wird dann eine Aufgabe gestellt. Diese Aufgabe sollte eine simple und realistische Repräsentation einer echten Aufgabe sein. Zudem sollte die Aufgabe den zu testenden Aspekt beachten. Es können bestimmte Funktionen getestet werden oder zu erwartende Prozesse. Dabei gilt es herauszufinden, ob die Funktionen und Prozesse für die Benutzer ersichtlich und verständlich sind.
Walkthrough
Der etwas unbekanntere Test, für die frühen Stadien. Vielen ist es gar nicht bewusst, dass man bereits sehr früh Testings durchführen kann. Bei solchen frühen Tests geht es gar nicht darum, das eigentliche Produkt zu testen, sondern anfängliche Ideen und Grundsatzfragen. Dabei können schon Wireframes und Konzepte getestet werden. Der Proband wird hier durch die rudimentären Seiten und Schritte durchgeführt und nach konkreten Einschätzungen gefragt. Solche Walkthroughs wirken zunächst etwas ressourcenzehrend, doch langfristig sind sie sparsam, weil sie viele Meetings und Hin- und Her-Diskussionen ersparen. Zudem weiss man von vorneherein, dass eine bestimmte Idee es überhaupt wert ist weiterzuentwickeln, bevor man zu viel Zeit und Mühe reinsteckt.
Das Sammeln von Daten
Testings soll man generell aufzeichnen. Im Mindesten soll die effektive Nutzung des Systems und die Stimme der Probanden aufgezeichnet werden. Idealerweise, wird auch der Proband selbst aufgezeichnet. Im Notfall kann auf die Aufnahme des Probanden selbst verzichtet werden, sollte es technisch nicht machbar sein. Es sollte jedoch bewusst sein, dass dadurch eine Menge Daten für eine akkurate Analyse verloren gehen, da oftmals die Mimik und Gestik es ermöglicht, Aussagen und Aktionen abzuwägen. (Etwa ein selbstsicherer Ton und eine unsichere Mimik oder eine zögernde Geste). Es sollte jedoch nie auf eine Aufzeichnung komplett verzichtet werden. Die Aufzeichnungen können auch später nochmals punktuell zur Überprüfung dienen oder um bestimmte Entscheidungen zu begründen.
Das System wird getestet
Prüfungsangst und Leistungsdruck sind weitverbreitete Probleme und können Testergebnisse verfälschen. Je mehr Druck vom Probanden empfunden wird, desto eher blockiert dieser in einer Weise, wie er es unter normalen Umständen nicht täte.
Ein weiteres Symptom sind Formen der Angststarre. Ein ebenfalls häufiges Problem, welches Analysen erschweren kann. Der Proband gibt sich dann in seinen Aussagen monoton und in seiner Mimik und Gestik versteinert gibt.
Dann achtet man besonders darauf, dass die Atmosphäre entspannt bleibt. Dazu sollte man klar aussprechen, dass dies ein Test für das System ist und nicht für den Probanden. De facto kann dieser keine Fehler machen.
Vorsicht bei Hilfestellung
Manche Probanden neigen dazu, schnell nachzufragen, auch wenn Sie einen Task allein durchführen sollen. Dies muss nicht direkt mit der Usability zusammenhängen, sondern kann dem Umstand der Testsituation geschuldet sein.
Man ermutigt den Proband, es selbst zu versuchen. Dabei entspannt man ihn so gut wie möglich. In dem man zum Beispiel daran erinnert, dass keine Fehler gemacht werden können. Hilfestellung gibt man erst, wenn ein Proband zu lange an einer Aufgabe hat oder es absolut sicher ist, dass die Aufgabe aus Usability Sicht nicht geschafft wird.
Aktive Zurückhaltung
In entsprechender Atmosphäre wird ein Proband das Gespräch suchen und Fragen stellen. Es ist besonders wichtig, hierbei darauf zu achten, auf die Fragen unter Umständen nicht einzugehen, wenn durch die Beantwortung, die Meinung oder Selbstinitiative des Probanden beeinflusst würde. Ebenso wichtig ist es dabei, nicht abweisend zu wirken. Dabei gilt es stets bei den Handlungen und Gedanken des Probanden zu sein, um gegebenenfalls bei Handlungen oder Aussagen nachzuhaken oder dort einzugreifen, wo es vorgesehen ist.
Am besten praktiziert man eine klare, freundliche Kommunikation, in welcher man das Fragestellen an sich gutheisst und die Nichtbeantwortung einer Frage klar und freundlich begründet.
Vor- und Nachgespräch
In einem kleinen Interview vor dem Test erfasst man unter anderem Gewohnheiten und Eigenheiten des Probanden. Diese erlauben wichtige Hinweise auf Benutzerverhalten, Selbsteinschätzung sowie Erfahrungen und Erwartungen bezüglich ähnlicher Systeme und deren Benutzung. Im Nachgespräch holt man ab, ob die Erwartungen zum positiven oder negativen erfüllt wurden. Das macht man mit einem kleinen Fragebogen oder durch eine Zusammenfassung über das Empfinden der Benutzung, sowie das Abholen von Lob und Kritik und Verbesserungsvorschläge mit Begründung.
Reproduzierbarkeit und Qualifikation
Ein Testing muss reproduzierbar sein. Es sollte möglich sein, den Prototypen und den Aufgabenkatalog jederzeit wieder aufzunehmen, um das Testing durch eine qualifizierte Person zu wiederholen und mit vorherigen Testings abzugleichen. Jeder kann Testings durchführen. Die Qualität der Daten hängt jedoch stark vom Tester ab. Es ist wichtig, für die Probanden Feingefühl und für das Produkt Gleichgültigkeit zu haben. Der falsche Tester kann zum Beispiel entweder Probanden in ihren Antworten einschränken, vielleicht sogar einschüchtern oder das Produkt während des Tests verteidigen und ergebnisverfälschende Hilfestellungen und Erklärungen geben.
Die wichtigsten Learnings:
- Tests müssen den Kontext des Produktes berücksichtigen.
- Es gibt Tests, die früh in der Konzeptionsphase durchgeführt werden können.
- Das Aufzeichnen von Testings ist wichtig für eventuelle Nachkontrollen.
- Das System wird getestet, nicht der Proband.
- Zurückhaltung bei Fragen und Hilfestellungen, während dem Testing.
- Vor- und nachgängiges Gespräch, um Erwartungen und Erfahrungen abzuholen.
- Testings müssen reproduzierbar sein.
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