Die Macht der Interviews im UX Bereich

Interview_Beitrag_Hauptbild

Bevor ich anfange, möchte ich darauf hinweisen, dass ich es verstehe, wenn man denkt, dass jeder ein Interview durchführen kann. Genau so kann man auch  sagen, dass jeder kochen, malen, tanzen und singen kann. Es ist eine Frage des Wissens, des Könnens und der Übung. Die eigentliche Kunst ist es nicht, irgendeine Befragung durchzuführen, sondern ein richtiges Interview durchzuführen. In diesem  Artikel geht es also darum, was ein gutes Interview ausmacht und worauf man achten sollte.

Wozu fragt man?

So offensichtlich der Grund scheint, so wichtig ist es, diesen wirklich zu verstehen. Man fragt, um etwas herauszufinden. Aber was möchte man herausfinden? Im UX Bereich wollen wir in erster Linie den Ist-Zustand der Benutzer herausfinden. Das ist es, was uns die Probanden in unseren Interviews beibringen können. Denn Interviews folgen dem Prinzip des Schüler-Meister-Modells. Wobei der Proband der Meister ist. 

Man muss sich das so vorstellen: Wir fragen, weil wir etwas wissen wollen. Dafür soll ein Experte mit uns sein Wissen teilen. Die Probanden sind für uns diese Experten. Sie sind Experten für sich selbst, und zwar zum jetzigen Zeitpunkt. Das ist das Wissen, das wir bekommen können.

Zur Erinnerung, Probanden sind Stellvertreter für unsere Benutzer. Diese Benutzer sind Menschen und in der User Experience folgen wir dem Prinzip der menschzentrierten Gestaltung. Haben wir also eine Expertise über die Benutzer, haben wir eine Expertise über das Zentrum unserer ganzen Arbeit. Das ist kein Nice-to-have. Das ist ein Must-have. Denn dieses Wissen erlaubt uns in einem Projekt gleich von Anfang an für den Benutzer zu konzipieren, was die Akzeptanz der Lösung erhöhen und frühzeitig falsche Laufrichtungen vermeiden kann. Die gesammelten Daten können zum Beispiel in Personas übertragen oder als Grundlage für Testings benutzt werden. Weitere Interviews oder Erhebungsmethoden im Verlauf des Projektes, verhindern ein Entgleisen während der Entwicklung. Auch kann man solche Daten benutzen, um die Suche nach neuen Ideen und Produkten zu unterstützen.

Buch mit Notizen, die während dem UX Interview gemacht wurden
Die Probanden sind die Experten. Man hört zu, schreibt mit und lernt.

 

Wieso nicht über die Zukunft fragen?

An der Stelle höre ich gerne Sätze im Tenor von: «Wir wollen ja nicht wissen, was der Kunde jetzt macht, sondern was er in Zukunft haben will.» Für alle mit diesem Satz im Kopf habe ich leider schlechte Nachrichten. Das werdet ihr nie erfahren.

Es gibt viele dieser berühmten Beispiele über Benutzerbedürfnisse. Um es einfach zu halten, erwähne ich kurz, dass wenn man vor 2007 irgendjemanden gefragt hätte: «Wie soll das perfekte Mobiltelefon aussehen?» niemand ein Smartphone im iPhone-Stil beschrieben hätte.

Es ist schlicht weg so, dass ein Experte nur das Wissen weitergeben kann, das er hat und unsere Experten wissen nur was sie haben, nicht was sie mal wirklich benötigen werden. Aber der gute Schüler übertrifft den Meister. Mit der Expertise der Probanden über das Hier und Jetzt und die damit verbundenen Probleme und Lösungen können wir herausfinden, was die Benutzer benötigen könnten. Denn wir haben die Methoden und das Können, aus dem Wissen der Expertenbedürfnisse für die Zukunft zu generieren. Aber was will man eigentlich wissen?

Was fragt man die Probanden am besten?

Wenn man die falschen Fragen stellt, dann bekommt man die falschen Antworten und wenn man mit den falschen Antworten arbeitet, dann fängt man an, falsche Lösungen zu entwickeln. Natürlich spielt es dabei eine grosse Rolle, wieso man fragt und zu welchem Zeitpunkt im Projekt. Die unten genannten Punkte sind jedoch eine gute Richtlinie, wenn es generell um die Benutzung/Entwicklung eines Produktes geht. Was man wissen muss, kann man auch im Rahmen von Workshops erarbeiten. Aber das ist ein anderes Thema. Wichtig ist zu bedenken, dass UX sich nicht nur auf den Benutzer an sich fokussiert, sondern auch auf dessen Umgebung. Ziel eines Interviews ist es, zu verstehen, wie der Benutzer in seinem Kontext bestimmte Tätigkeiten erfüllt, welche Ziele er damit verfolgt, auf welche Probleme er dabei stösst und wie er diese ggf. bewältigt. Wenn nichts anderes definiert wurde, sollten grundsätzlich folgende Informationen aus den gesammelten Daten eines Interviews entnommen werden können:

Wer? Ziele, Bedürfnisse, Probleme, Werte und Eigenheiten des Benutzers.
Was? Aufgaben, Abläufe und Tätigkeiten im Rahmen der Benutzung.
Wie? Schwierigkeiten und Lösungsansätze im Ist-Zustand.
Wo? Fachbereich, Fachbegriffe und Prozesse des Kontextes verständlich machen.

Wie funktioniert ein qualitatives Interview?

Es werden nicht viele Probanden gefragt, aber dafür sehr tiefgehend. Ein qualitatives Interview zeichnet sich dadurch aus, dass es wie ein Gespräch auf lockere Weise geführt wird. Das erlaubt dem Probanden, frei zu erzählen. Dieses offene Sprechen gibt potenziell viele Informationen, an welche man nicht einmal gedacht hätte zu fragen. Der Proband wird durch offene Fragestellungen zum Plaudern animiert. Es werden die Dinge erzählt, welche für den Probanden Wert haben. Die empirischen Daten, welche man gewinnt, können eine wichtige Tiefe erhalten. Es ist nicht selten, dass bei längeren Erklärungen noch eventuell weitere Fragen beantwortet werden. Auch eine gute Praxis ist es, am Ende einer Antwort noch etwas zu warten, falls dem Probanden noch etwas einfällt, das wichtig sein könnte. Als Faustregel kann man sich merken, dass bei einem guten Interview der Proband deutlich mehr redet als der Experte. Auf eine Frage kommt ein ganzer Absatz des Probanden. (So wie in diesem Artikel) ...

Ach ja, da fällt mir noch ein, es ist wichtig, dass man im Vorhinein dem Probanden noch gewisse Hintergrundinformationen über die Absichten des Interviews gibt, ihn abholt und auf Augenhöhe begegnet. (Erster Absatz ?)

Auswertung und Aufarbeitung auf dem Laptop nach dem UX Interview
Mitschriften und Aufzeichnungen werden ausgewertet und für weitere Schritte aufbereitet.

 

Wie fragt man?

Damit das mit dem Plaudern auch funktioniert, werden offene Fragen gestellt. Es bedeutet die Fragen so zu stellen, dass diese nicht mit einer Auswahl oder schlichtem Ja oder Nein beantwortet werden können. Man fragt also: «Was sind Ihre häufigsten Gedanken beim Benutzen des Produktes?» und nicht «Mögen Sie das Produkt?» oder «Welche der folgenden Aussagen trifft zu?» Solche geschlossenen Fragen sind bei Umfragen nützlich. Darauf komme ich gerne in einem späteren Artikel zu sprechen.

Zwar kann man bei einer knappen Ja/Nein-Antwort immer ein «Warum?» anhängen. Aber auch dann sind die Antworten meist knapper. Das kann man zwischendurch mal machen, doch wenn alle Fragen so aussehen, dann ist es kein gutes qualitatives Interview mehr, sondern eher eine trockene Befragung. Je nach Projektphase gehen dann im schlimmsten Fall wichtige empirische Daten verloren.


Ebenso ist es wichtig, suggestive Fragestellungen zu vermeiden. Das bedeutet, Fragestellungen, welche bereits einen Teil der Antwort vorgeben. Das kann verzwickter sein, als man denkt und bedarf Feingefühl in der Fragestellung. Es sollte dem Probanden überlassen sein, ob seine Antwort positiv oder negativ ausfällt, ausser der Zweck ist es explizit Positives und explizit Negatives zu erfragen. Dann sollte dies aber immer im Tandem geschehen. Zur Suggestion gehören auch konkrete Lösungen. Hier kommt wieder die vorhin erklärte Expertise der Probanden ins Spiel.

Gibt es ein konkretes Beispiel?

Nehmen wir ein Beispiel, mit dem ich oft zu tun habe: Kontaktmöglichkeiten auf Webseiten. Auch wenn die Projektverantwortlichen sich unsterblich in die Idee eines Chatbots verliebt haben, wenn der Proband sie nicht benutzt, wäre es eine Verschwendung. Wie können wir nun fragen? Fangen wir mit der schlimmsten Fragestellung an.

«Würden Sie einen Chatbot nutzen?» ... Auch wenn es die Mutigen gibt, die zu ihrer Abneigung gegen Chatbots stehen und nein sagen, werden im Gespräch die meisten ein unmotiviertes «Ja.» von sich geben. Voilà, wir haben unsere Lieblingsantwort. Die Projektverantwortlichen werden glücklich sein. Fragen wir den Probanden anders.

 «Was halten Sie von Chatbots?» … Diese Frage ist deutlich besser. Der Proband wird zu seiner Meinung gefragt und aufgefordert, wenigstens einen Satz zu sagen. Dabei erklärt der Proband, dass er Chatbots halt benutzt, aber wenn er kann, meidet er sie. Weil wir einen Moment warten, erwähnt er noch, dass er wahrscheinlich einen anderen Anbieter suchen würde, wenn der Bot fehlerhaft scheint oder nicht ausreichend hilft. Das sind wichtige Zusatzerkenntnisse. Das Problem ist nur, dass wir die Projektverantwortlichen enttäuschen müssen, ohne eine alternative Lösung zu haben. Fragen wir mal richtig.

«Welche Kontaktmöglichkeiten nutzt du auf Webseiten?» … Diese Frage lässt dem Probanden viel Platz zur Interpretation. Deshalb erwähnt er, am liebsten E-Mails zu schreiben, weil er es nicht mag, ewig in einer Warteschleife zu stecken. Ausserdem mag er es, einen direkten Kontakt zu bekommen, wenn es einen gibt. Essenzielle Punkte, die wir nicht erfahren hätten, wenn wir in der Suggestion des Chatbots geblieben wären. Die Chatbot-Frage könnte man dennoch als Anschlussfrage stellen. Wenn also nun die Projektverantwortlichen um jeden Preis sich nicht von der Chatbot-Idee trennen wollen, können wir dank den Antworten eine Lösung konzipieren, welche dennoch die Bedürfnisse des Benutzers befriedigt.

Zum Beispiel könnte man einen sehr knappen und simplen Chatbot kreieren, der mit zwei bis drei Fragen hilft die richtige Kontaktperson zu finden.

Gibt es noch etwas zu erwähnen, was nicht gefragt wurde?

Qualitative Interviews müssen immer mit etwas Vorsicht bedacht werden. Selbst wenn sie richtig durchgeführt werden, geben die gewonnenen Erkenntnisse sicher eine gute Laufrichtung, aber keinen endgültigen Pfad bis zum fertigen Produkt. Idealerweise nimmt man die Erkenntnisse, stellt daraus Theorien auf und teste diese auf ihre Gültigkeit. Sei es in dem man Lo-Fi Prototypen baut und testet oder indem man die Theorien durch eine quantitative Umfrage konsolidiert

Ach, fast hätte ich es vergessen. Es ist auch wichtig, dass man die richtigen Personen als Probanden auswählt. Dabei gilt es, auf eine Diversität zu achten, welche die Benutzer widerspiegelt. Wenn man 10 IT-Experten fragt «Was ist dir beim Computer wichtig?» Dann kommen andere Antworten, als wenn man 10 Buchhalter fragt. Das wollte ich noch kurz erwähnt haben. So nebenbei ?

Was macht denn ein Interview nun so mächtig?

Lies den Artikel nochmals. Denn Interviews werden aufgearbeitet. Das heisst, sie werden aufgezeichnet und/oder transkribiert, um sie immer wieder durchgehen zu können. Dabei findet man die wichtigsten Punkte und Aussagen und fasst sie zusammen. Etwa so:

Wir fassen zusammen

  • Interviews sind ein guter Start und helfen auch bei der Ideenfindung.
  • Man fragt die Benutzer, denn Sie sind die Experten in sich selbst.
  • Die Benutzer wissen nicht, was Sie wollen, aber was sie haben.
  • Wir besitzen das Wissen und die Methoden, um herauszufinden, was sie wollen.
  • Interviews sind Gespräche, in denen hauptsächlich der Proband spricht.
  • Es werden offene Fragen gestellt, um den Proband frei reden lassen zu können.
  • Keine suggestiven Fragen stellen. Der Proband hat seine Meinung.
  • Man muss die richtigen Personen als Probanden auswählen.

Diese Punkte nehmen wir nun und können daraus erfahren:

Interviews sind mächtig, weil man den Benutzer und seine Bedürfnisse genau kennenlernt, wenn die Interviews richtig durchgeführt werden. Wenn die Informationen dann mit den richtigen Methoden aufbereitet werden, helfen Sie bei der Ideenfindung oder Projektaufgleisung. Zum Beispiel, in dem man die generierten Daten in Personas übertragt oder Testings darauf aufbaut.


Danke für das Gespräch.

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